Über Raben : Roman

Hochgatterer, Paulus, 2002
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Medienart Buch
ISBN 978-3-216-30629-6
Verfasser Hochgatterer, Paulus Wikipedia
Systematik DR - Romane,Erzählungen, Prosa
Schlagworte Schule, situative Spannung, Klettererlebnisse, Erinnerungen
Verlag Deuticke
Ort Wien
Jahr 2002
Umfang 235 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Annotation Quelle: 1000 und 1 Buch (http://www.1001buch.at/);
Autor: Franz Lettner;
Annotation: Zwei parallel geführte Erzählstränge über einen bergsteigenden Lehrer und ein Mächen mit Vorliebe für Todesarten kommen nur im Kopf der Lesenden zusammen.
Rezension: Der Rabe hat möglicherweise als Schatten auf Seite 113 seinen ersten Auftritt, sicher jedenfalls auf Seite 151. Ob er uns an E. A. Poe denken lassen soll oder an einen Geier, ist ungewiss. Der ihn sieht, ist jedenfalls der Protagonist des einen Erzählstrangs, der von einem Deutschlehrer erzählt, der im Winter in den Ennstaler Alpen eine eher schwierige Tour (Schwierigkeitsgrad 6 und darüber) geht und neben diversen Ausrüstungsgegenständen auch ein Gewehr bei sich trägt, ein Matchgewehr von Weatherby um genau zu sein. Und das sollte man bei Hochgatterer. Hinter sich weiß er ein gescheitertes bürgerliches Leben, viele Bergtouren und hinter sich wähnt er seine LehrerkollegInnen und diverse Sicherheitsbeamte. Das Gewehr wird nicht benützt, zumindest wird davon nicht erzählt.
Haut und Knochen gehören neben Todesvarianten zu den bevorzugten Gegenständen des Nachdenkens der 13-jährigen Valentina, ihr ist der zweite, parallel geführte Erzählstrang gewidmet. Haut und Knochen, Insektenvernichtungsmittel und Geruchsbeseitiger. Das Mädchen lebt allein mit ihrem Kater Ratajczyk, benannt nach einem Fußballspieler (vormals Rapid, jetzt Austria um genau zu sein, und Genauigkeit), und erzählt uns minutiös, detailversessen und sehr distanziert von ihrem Alltag, von der Schule hauptsächlich, den Wegen dorthin und zurück nach Hause. Von MitschülerInnen und LehrerInnen. Vom Einkaufen. Und von Annette, einer behinderten Frau, die sie be- und deren Bankomatkarte sie veruntreut. Der Bergsteiger war ihr Deutschlehrer.
Was die beiden verbindet, ist unserer Phantasie überlassen, wer oder was in der Wohnung des Mädchens verwest, wozu sie Holzkitt braucht, warum sie einmal eine Schleife um den Bauch hatte und Georg Friedrich Händel zitiert auch. Ob der Lehrer tatsächlich verfolgt wird oder bloß durchgeknallt ist - und in beiden Fällen: wenn ja warum - bleibt unserer Phantasie überlassen.
"Für die bösen Kinder und die schlechten Lehrer" lautet die Widmung des Autors, der in einem Interview behauptet, die "ganze" Geschichte zu kennen. Und im einem Gespräch sagt: "Zwischen 10 und 18 geht es für das Kind darum, die Eltern zu 'erledigen'. Das wird und wurde immer mithilfe der Lehrer getan. Dazu braucht man gute, aber auch schlechte Lehrer." Mehr kann nicht gesagt werden.
Höchste Empfehlung für gute und schlechte LehrerInnen, brave und böse Kinder, Bergsteiger und Biologen, phantasiebegabte LeserInnen, und alle, die am Phänomen literarischer Spannung und wie man sie erzeugt interessiert sind. Höchste Empfehlung für alle.
Lesetipp

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Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Renate Langer;
Ein böses Kind? Ein schlechter Lehrer? Oder ein paranoider Leser? (DR)

Ein Mann bricht wohlausgerüstet zu einer Klettertour ins winterliche Hochgebirge auf. Ein Mädchen lebt in Wien seinen wenig spektakulären Alltag zwischen Schule und Zuhause, geht einkaufen und füttert seinen Kater. Je ein Kapitel handelt abwechselnd von ihm und von ihr. Was haben die beiden miteinander zu tun? Der Leser sieht sich genötigt, in die Rolle eines Indizien sammelnden Detektivs zu schlüpfen. Bedenkliche Einzelheiten lassen vermuten, daß die zwei auf den ersten Blick so unscheinbaren Protagonisten in merkwürdige Geschichten verwickelt sind. Wozu schleppt der Mann ein Gewehr auf den Berg? Wozu kauft die Dreizehnjährige mitten im Winter Insektenvertilgungsmittel? Was ist Phantasie? Was Realität? Fragen über Fragen. Allmählich lassen sich einige der Puzzleteile zusammenfügen: Der Mann ist Deutschlehrer, und das Mädchen ist - oder war? - seine Schülerin. Daß der Autor sein Buch, wie es in der Widmung heißt, "für die bösen Kinder und die schlechten Lehrer" geschrieben hat, wirkt nicht unbedingt beruhigend. Hochgatterer versteht es, mittels Motivwiederholungen ein Netz aus Verweisen zu knüpfen. Die raffiniert konstruierte Geschichte nimmt den Leser gefangen, die Spannung steigt bis zuletzt. Am Schluss sind zwar nicht alle Rätsel gelöst, doch ein Verdacht hat sich bestätigt: Paulus Hochgatterer zählt zu den besten Erzählern, die derzeit in Österreich leben. - Sehr empfehlenswert.

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Michael Hammerschmid;
Über Raben oder: Vom Wunsch Raben zu haben / Paulus Hochgatterers rätselhafter Roman

Manchmal fragte er sich, ob in den allerletzten Augenblicken sein Leben tatsächlich vor ihm ablaufen würde wie ein innerer Film. Wenn er an zwei Fingern über einem Abgrund hing, fragte er sich das, oder wenn ihm im Stürzen klar wurde, dass der Haken, der ihn halten sollte, von einer fremden Person geschlagen worden war." So entfernt dieser Bergsteiger auch gerade von den Menschen ist, so sehr bleibt er mit ihnen vergesellschaftet. Paulus Hochgatterers neuer im Deuticke-Verlag erschienener Roman folgt ihm denn auch gründlich, mit Fernrohr und Mikroskop, also von außen auf Schritt und Tritt, und innen von einer Erinnerung zur nächsten. Daß der Text mit einer Frage zum Sterben beginnt, daß dieser Bergsteiger auf nur zwei Fingern über einem Abgrund hängt, damit wird schon im ersten Moment auf existentielle Fragen angespielt. Die Todesthematik taucht hinter dem Erlebnisbericht dann auch allenthalben auf, bleibt aber doch letztlich zu undeutlich, um dem Roman größere Tiefenschärfe zu verleihen. Der suggestive Titel "Über Raben", der ebenso in Richtung Tod weist, bleibt Andeutung. Im unmetaphysischen und auf Alltagsbeschreibungen reduzierten Gestus liegt denn auch das Programm dieses Buches.
Sein Protagonist, ein Lehrer, ist eine sonderliche Gestalt, er trägt ein Präzisionsgewehr mit sich, das er an späterer Stelle still auf einen entfernten Bergsteiger richtet, um es dann wieder einzupacken. Trotz der Innensicht in die Hauptfigur bleibt sein Charakter eigenartig uneinsehbar, vielleicht verstärkt sich dieser Eindruck auch, weil die vermittelnde Instanz des auktorialen Erzählers keine eigene Kontur hat. Hochgatterers Roman bekommt seine Eigenheit erst durch eine zweite Geschichte, die mit dem Bericht über den einsamen Bergsteiger kapitelweise alteriert. Sie wird von einem dreizehnjährigen Mädchen erzählt und beginnt so: "Die Choco-Pops sind aus. Es ist der 29. Jänner, draußen scheint die Sonne, die Choco-Pops sind aus und es liegt keine Spur von Schnee. Ich nehme den Rest Cornflakes, der seit Jahren in einem schmalen, hohen Tupperware-Behälter mit blauem Deckel vor sich hin vergammelt." Hier erfährt man ziemlich viel auf wenig Raum, Datum, Wetter und eine kleine Geschichte von Choco-Pops und Cornflakes. Hochgatterer beherrscht es, sein Wissen über Teenager-Codes mit seiner differenzierten Kenntnis der Warenwelt in einen knappen und lockeren Erzählfluß zu übersetzen. Ähnlich wie der Bergsteiger ist auch Valentine sehr viel mit und bei sich. Sie lebt allein mit ihrem Kater Ratajczyk und interessiert sich für verschiedene Todesarten genauso wie für Kleidung und ihre farbliche Kombination. Besonders liebt sie es, in ihrem neuen Pons-Englischwörterbuch nachzuschlagen. Sie erzählt von ihrer Schulklasse und ihrem Alltag mit den Klassenkolleginnen und Kollegen. Ihre Vorlieben und Abneigungen halten sich eine auffallend gesunde Waage, sie ist eine aufgeweckte, offene kleine Person, eine Persönlichkeit mit großer Wahrnehmungsgabe. "Die Luft brennt auf den Wangen. Sie ist viel eindeutiger kalt als am Morgen 2000 . Ich ziehe den Jackenzipp hoch bis zum Kinn." Hochgatterer erzählt in "Über Raben" also die Geschichte zweier Lebensalter, Geschlechter, Charaktere, zweier Formen des Bei-sich-Seins und zweier Lebensformen.
Eine Art erzählerischer Sympathicus gibt das Tempo des gesamten Textes mit seinem anregenden, angeregten Tonus an. Die hohe Aufmerksamkeit Hochgatterers ist dabei ganz dem Heutigen und Alltäglichen zugewandt, das mit nahezu foto- und psychorealistischem Blick eingefangen wird. Die Vernetzung unzähliger Einzelbeobachtungen bildet eine Art literarische Netzhaut, die für Authentizitätsprojektionen sehr empfänglich ist. In Hochgatterers Beobachtungskunst liegt der methodische Kern seiner Prosa. Ihre gesunde Distanz zum Gegenstand, ihre unmittelbare Direktheit, ihre stabile Konzeption, ihr lockerer Umgang mit Sexualität, die bereits genannte Ausgewogenheit von Affirmationen und Ablehnungen in den Figurenwahrnehmungen lassen sie aber auch als Prosa eines Psychologen erscheinen, die ihre Abgründe schon fast zu gut verarbeitet und integriert hat. Wird man nicht vom Strom der Beobachtungen eingewebt, können einem diese bald beliebig vorkommen. Vor allem aber kommt die Dramaturgie des Textes recht kurz, auch wenn die Montage der beiden scheinbar unverbundenen Geschichten zunächst eine interessante Konstellation ergibt. Diese Unverbundenheit wird auf einer Mikroebene durch mannigfaltige Verbindungen und Ähnlichkeiten teilweise wieder aufgehoben, am augenfälligsten als Komplementärrelation, der Bergsteiger ist Lehrer, das Mädchen seine Schülerin. Das Spezifikum dieser Konzeption liegt aber in den Details. Eine mögliche Erkenntnis daraus mag sein, daß Einsamkeit und Geselligkeit, Trennung und Verbindung sich nicht als reine Oppositionen gegenüberstehen. Doch was sagt dies im konkreten Fall der beiden Protagonisten aus? Etwas wenig, wobei die Grenzen dieses Programms deutlich werden. Schon für sich genommen zeigen die Erzählstränge so gut wie keine Entwicklung. Überall spürt man Potentiale für Geschichten, die vom Autor bewußt nicht genützt werden. Die erwarteten Katastrophen bleiben ausgespart, eine Verletzung, aber kein Absturz, kein Schuß löst sich, kein Toter, trotz der vielen Todesvorstellungen von Valentine. Die Pawlowschen Effekte literarischer Leser werden nicht bedient, der Rabe bleibt ein Rabe, seine Mythologie bleibt ausgeblendet. Schade dennoch, daß diese Potentiale auf gar keiner Ebene genützt werden. Schön zwar auch, daß Hochgatterers Text die Bestseller-Erwartungen nach Stories genausowenig erfüllt. Aus dieser Verweigerung wird jedoch kein wirkliches Gegenmodell entwickelt, eine dramaturgische Organisation der Erzählung wäre schon eine Möglichkeit gewesen. Wird bei Hochgatterer das Existentielle aber tatsächlich gegen das Alltägliche ausgespielt? Abgründiges ist nur angespielt, daraus entwickeln sich keine Textenergien, vieles ist genau beschrieben, aber kein mit den Details operierendes Kalkül läßt sich erkennen, das Verbinden wird vielmehr dem Leser überantwortet. Wahrscheinlich hat das Tautologische und Pragmatische dieses Alltagsmikrogramms auf Er/Lösungssuchende einen heilenden Effekt. Leicht blättern die vielen Abbilder nach dem Lesen aber leider wieder aus dem Gedächtnis ab. Interessant und amüsant waren dann die Details, hinter denen die Konturen der beiden Figuren und ihre Geschichten zurückstehen. Der Rabe bleibt nicht nur am Cover stehen, sondern auch im Gedächtnis hängen. Wilhelm Busch spricht in Hans Huckebein der Unglücksrabe davon, daß alle Knaben gerne einen Raben haben wollen. Über Raben weckt solche einfachen Knaben- und Mädchenwünsche. Wenn sie bei Hochgatterer auch nicht so schlecht wie in der bitteren Parabel Buschs ausgehen, so bleiben sie dennoch unerfüllt.

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Quelle: SCHRIFT/zeichen;
Autor: Helga Ebner;
Paulus Hochgatterer ist in Österreichs Literaturszene kein Unbekannter mehr. Der in Wien lebende Schriftsteller und Kinderpsychiater (geboren wurde er 1961 in Amstetten) hat mit seinen beiden Jugendromanen "Wildwasser" (1995) und "Caretta Caretta" (1999) die Diskussion um den postmodernen Adoleszenzroman belebt und teilweise zwiespältige Reaktionen ausgelöst. Hochgatterer ist ein Autor, der beschreibt und nicht wertet, der einen besonders scharfen Blick hat für die Abgründe der menschlichen Psyche.
Der vorliegende Roman widmet sich nicht mehr ausschließlich - wie die beiden oben genannten - jugendlichen Lebenswelten. Zwei Handlungsstränge in unterschiedlicher Erzählhaltung laufen isoliert nebeneinander, die beiden Protagonisten haben nur insofern etwas gemeinsam, als die Jugendliche eine Schülerin des Erwachsenen ist. Die Schule scheint der einzige Ort zu sein, wo sich ihre Lebenswege kreuzen.
Hochgatterer widmet seinen Roman den "bösen Kindern" und den "schlechten Lehrern" und leuchtet hinter deren Fassade. Das Motto, das er einem Gedicht von Hermann Gilm entnommen hat, nimmt die Grundstimmung vorweg, die sich aus der voranschreitenden Gefährdung eines Menschen durch ihn selbst ergibt.
Sowohl die Schülerin als auch der Lehrer dürften sich in den sechs Tagen vor Semesterschluss in einer prekären psychischen Verfassung befinden. Über die Auslöser lassen sich nur Vermutungen anstellen. Der Autor beschränkt sich auf die zum Teil minutiös genaue Wiedergabe der Handlungsabläufe, Gedanken und Äußerungen.
Der Lehrer bleibt ohne Grund der Schule fern, er hat sich in die Berge zurückgezogen, in steiles, winterliches Gelände, ausgerüstet mit sämtlichen Kletterutensilien und einem Präzisionsgewehr. Er fühlt sich offenbar verfolgt. Der Leser/die Leserin erlebt mit ihm jeden Handgriff in der eisigen Kletterwand und hat teil an seinen Gedanken und Erinnerungen. Vieles geht ihm in dieser Einsamkeit durch den Kopf, die gescheiterte Ehe, die Sehnsucht nach seinem kleinen Sohn, eine Krankheit, gegen deren Schmerzen er ankämpft, und die Kollegenschaft. Der Anlass dieser ungewöhnlichen Unternehmung bleibt jedoch unklar. Es stellen sich beim Leser Ahnungen und Befürchtungen ein, die die Spannung nähren. So viel ist aber klar, es handelt sich um die Situation eines vereinsamten Menschen. Der Autor hat nicht einmal einen Namen für ihn.
Vereinsamt ist - allem Anschein nach - auch das dreizehnjährige Mädchen, dem der Leser/die Leserin als Ich-Erzählerin begegnet. Es bewohnt alleine mit seinem Kater eine Großstadtwohnung und scheint sein Leben völlig eigenständig zu organisieren. Es gibt kaum Erwachsene, die ihm Geborgenheit vermitteln beziehungsweise Grenzen setzen und seine Fantasiewelt relativieren. Realität und Fantasie haben in seinem Leben in gleicher Weise Platz, dem spielerischen So-tun-als-ob wird jedoch der Vorzug gegeben, vor allem das Gedankenspiel mit Todesursachen scheint dem Mädchen zu gefallen. Die einzigen Sozialkontakte gibt es in der Schule und mit einer behinderten Nachbarin, mit deren Bankomatkarte sie sich das Geld für die absurdesten Einkäufe verschafft. Menschliche Nähe ist ausgespart, nüchternes Kalkül bestimmt den Umgang mit anderen. Am Ende - in seinem verschneiten Biwak - beschäftigt sich der Lehrer mit den eigenwilligen Aufsätzen dieses Kindes. Nur hier gibt es innerhalb des Romans Berührungspunkte zwischen den beiden Erzählsträngen.
Der Roman liest sich wie ein raffiniert gebauter Psychothriller. Die latente Angst um die beiden Protagonisten, die unterschiedlichsten Ahnungen und Befürchtungen stellen den Zusammenhalt zwischen den beiden Erzählsträngen her. Ein auch literarisch bemerkenswertes Buch, das konsequent Isolation und den Verlust menschlicher Wärme vor Augen führt.

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